Erinnerungen an die deutsche Geschichte
Erinnern Sie sich noch? Die Besetzungen der deutschen Botschaften in Prag und Warschau 1989, die Öffnung der Grenze zwischen Österreich und Ungarn, die Montagsdemos in Leipzig und an anderen Orten, die erste Maueröffnung am 9. November 1989 und schließlich der Tag der Deutschen Einheit am 3. Oktober 1990. Es waren damals ereignisreiche und bewegte Wochen, die wir alle mit Spannung erlebt haben. Und viele Gefühle haben uns dabei begleitet: Sorge und große Angst, aber auch Hoffnung und Freude. Und als dann schließlich der Einigungsvertrag unterzeichnet war, haben nicht wenige auch die Hände gefaltet und Gott gedankt. Die deutsche Einheit war nicht nur ein Werk von Menschen, sondern wurde auch als Geschenk empfunden, als Geschenk von oben, von Gott.
Es gibt zwei Extrempositionen, die man mit diesem Thema „geschenkte Einheit“ verbinden könnte, und die ich hier kurz andeuten möchte.
Hände in den Schoß legen
Man könnte zum einen meinen: Wenn die Einheit ein Geschenk ist, dann kann und brauche ich auch nichts zu machen. Dann kann ich meine Hände in den Schoß legen und abwarten, bis die Einheit von Gott kommt. Vor dieser Annahme möchte ich warnen. Ich bin sicher, dass die deutsche Einheit niemals zustande gekommen wäre ohne das Bemühen vieler auf beiden Seiten: Politiker, Wissenschaftler, Vertreter der Kirchen, Künstler und vieler einfacher Bürger.
Ferner denke ich dabei nicht nur an die deutsche Einheit. Auch die Christen sind getrennt in verschiedene Konfessionen. Und ich bin dankbar und froh, dass viele Christen nicht die Hände in den Schoß legen und warten, bis Gott etwas bewirkt, sondern dass sie mitwirken und aufeinander zugehen, auch wenn sie wissen, dass die Einheit letztlich ein Geschenk ist.
Verordnete oder erzwungene Einheit
Einheit kann man nicht machen und schon gar nicht anordnen. Das zeigt die jüngere Geschichte mehrerer europäischer Staaten. Die Sowjetunion ist in der Zeit von Glasnost und Peristroika schnell auseinandergefallen. Im ehemaligen Jugoslawien haben die 7 Republiken nach dem Tod Titos sofort ihre Unabhängigkeit erklärt. Und auch in so Ländern wie Großbritannien oder Spanien steht so manches Mal die Einheit auf dem Spiel. Eine verordnete oder gar erzwungene Einheit hat selten Bestand.
Die Wirklichkeit liegt also in der Mitte. Einheit ist ein Geschenk, aber ich kann viel dazu beitragen, dass dieses Geschenk auch Wirklichkeit werden und bleiben kann.
Wertschätzung als Nährboden der Einheit
Einheit braucht einen anderen Nährboden, damit sie wachsen kann. Dieser Nährboden ist die gegenseitige Wertschätzung. Auch dafür gibt es wunderbare Beispiele. Papst Paul VI. hat sich 1964 mit dem Patriarchen Athenagoras getroffen und so einen wichtigen Schritt der Annährung der orthodoxen und der katholischen Kirche getan. Und Willy Brand hat mit seinem Besuch in Warschau im Jahr 1970 sicher auch einen Meilenstein auf dem Weg zur deutschen Einheit gesetzt. Mit solchen Aktivitäten kann man die Einheit natürlich nicht machen. Mit Sicherheit aber kann man Voraussetzungen schaffen, auf denen die Einheit dann wachsen kann. Sich beschenken lassen und etwas dafür tun schließen sich nicht aus.
Verzicht und Entgegenkommen
Die gegenseitige Wertschätzung, die ich dem anderen entgegenbringe, ist sicher ein großartiges Geschenk, das viel zur Einheit beiträgt. Doch es gibt noch andere Geschenke, die mit Geben erst einmal nicht viel zu tun haben.
Schon als Kind habe ich erfahren, dass ich in der Familie auch auf manches verzichten und Kompromisse schließen musste. Das habe ich bei meinen Eltern erlebt, dann bei meinen Geschwistern und auch bei mir. Sicher war dieser Verzicht am Anfang nicht freiwillig, sondern eher erzwungenermaßen. Aber später durfte ich erleben, dass dieses Entgegenkommen und Verzichten auch dazu beigetragen hat, dass wir als Familie zusammengewachsen sind und heute noch in gutem Kontakt zueinander stehen.
Einen ganz aktuellen Stellenwert bekommen Entgegenkommen und Verzicht beim Zusammenwachsen unserer Pfarreien. Hier ist häufig ein Verzicht notwendig, z.B. bei der Wahl einer Kirche zur Pfarrkirche oder beim Neuverteilen finanzieller Ressourcen. Wenn da nur ängstlich geschaut wird, dass ich ja nicht zu kurz komme, kann Einheit niemals wachsen. Erst wenn mir gemeinsame Ganze wichtiger wird als die eigenen Interessen, kann die eine Pfarrei entstehen.
Dankbarkeit: die Einheit bewahren
Einen geschenkten Blumenstrauß stellt man ins Wasser, um die Blumen lange frisch zu halten. Mit einem geschenkten Fahrrad gehe ich sorgsam aus, um lange damit fahren zu können. Geschenke wollen gepflegt werden. Das ist sicher die schönste Form, um Geschenke wert zu schätzen und dem Geber der Geschenke zu danken. Das gilt für die deutsche Einheit, die uns vor 30 Jahren geschenkt wurde. Das gilt auch für die Einheit der Christen, um die wir uns weiterhin mühen. Und das gilt sicher auch für die Einheit in einem Konvent, einer Ordensgemeinschaft, einem Presbyterium, einer Gemeinde.
Prälat Dr. Stefan Dybowski
07.10.2021 Monatsvortrag Kloster St. Augustinus, Berlin-Lankwitz