Im Laufe der vielen Gedanken, die wir uns jetzt schon zum Thema „Einheit“ gemacht haben, ist eines ganz klar geworden. Einheit ist nicht etwas, was da ist. Einheit sind Beziehungen, die entstehen, die wachsen und vertieft werden können, und mit denen man achtsam umgehen müsse, damit sie nicht verloren gehen (s. auch den Brief von Sr. Sybilla). Daher möchte ich heute mit Ihnen darüber nachdenken, wie die Einheit entstehen und vertieft werden kann.

 

Einheit fängt bei mir an

Es gibt eine Erkenntnis, die wir im Laufe unseres Lebens machen – der eine früher, der andere später, und die oft sehr schmerzlich ist: Ich kann mir meine Mitmenschen nicht backen, d.h. sie mir so zurechtbiegen, wie ich sie gern haben möchte. Das würde höchstens mit Gewalt gehen und rächt sich oft bitter. Die Weltgeschichte kennt dafür zahlreiche Beispiele, und auch viele Menschen können von diesen Erfahrungen erzählen: Eltern, Lehrer, Seelsorger. Das ist auch eine wichtige Erkenntnis für jede Gemeinschaft. Ich kann die Einheit nicht machen, indem ich die Anderen durch Vorschriften und Regeln zu einem gemeinsamen Tun anhalte.

Ich kann nicht die Anderen verändern. Veränderung kann nur bei mir selbst beginnen. So beginnt auch der erste Schritt zur Einheit bei mir selbst.

 

Einheit wächst schrittweise

Eines der bekanntesten Gleichnis Jesu ist das Gleichnis von den Samenkörnern. Die Natur braucht viel Zeit, um zu wachsen und Früchte zu bringen. Was für die Natur gilt, gilt auch für das Leben der Menschen. Dazu zwei aktuelle Beispiele:

– Deutsche Einheit

Zum Thema Einheit können wir viel aus der deutschen Geschichte lernen. Eine von diesen Erfahrungen ist, dass Einheit sich nur langsam entwickelt. Nach der Zeit der Abgrenzung im „kalten Krieg“ folgte in Deutschland eine Politik der Annäherung der beiden deutschen Staaten. Und es war ein langer Weg, der zur Wiedervereinigung geführt hat.

– Ökumene

Ähnliche Erfahrungen gibt es auch im Bereich der Ökumene. Auch hier gibt es viele Bemühungen um die Annäherung der beiden großen christlichen Konfessionen.

Vor allem wird deutlich, dass diese Annäherung von unten geschieht. Menschen lernen einander kennen, entdecken die liebenswerten Seiten und Stärken des Anderen und können so Trennungen und Spaltungen überwinden.

 

Einheit kostet etwas

Kennen Sie den Spruch: „Was nichts kostet, ist auch nichts wert.“ So ganz viel halte ich nicht von diesem Spruch. Es ist so ähnlich wie die irrige Meinung, dass Medizin bitter schmecken muss, wenn sie helfen soll. Doch bei der Einheit würde ich schon sagen, dass ihren Preis hat. Was kostet die Einheit?

 

 

Erinnerungen an die Schulzeit: Manche Kinder haben das Lesen und Rechnen schneller gelernt, manche Kinder brauchten länger dazu. Unsere Lehrerin hatte oft viel Geduld aufgewandt, damit auch die Schwächeren nachkommen und die Klasse nicht in zwei Gruppen gespalten wurde.

Erfahrungen bei einer gemeinsamen Wanderung: die Schnellen in der Gruppe mussten immer wieder warten, damit wir als Gruppe gemeinsam das Ziel erreichen konnten.

Geduld, Rücksichtnahme, die dazu notwendige Demut … das sind wichtige Schritte auf dem Weg zur Einheit.

 

Ein Stück von dir hergeben

Der schönste, aber sicher auch teuerste Preis für die Einheit möchte ich Ihnen mit der Geschichte vom Salzmännchen erzählen.

Ein Salzmännchen kam auf seiner Wanderung durch die endlosen Wüsten schließlich ans Meer. Es hatte das Meer noch nie gesehen und stand ganz fasziniert davor. Es war beeindruckt von der Kraft seiner Wellen und spürte die Frische, die von ihm aus ging.

„Guten Tag!“ sagte das Salzmännchen. – „Guten Tag,“ antwortete das Meer. Wer bist du?“ fragte das Salzmännchen. -„Ich bin das Meer,“ antwortete dieses. „Was heißt das?“ fragte das Salzmännchen. „Ich kenne dich noch nicht.“  – „Wenn du mich kennen lernen willst, musst du näher kommen.“

Das Salzmännchen ging also ein Schritt näher heran, und dann noch einen Schritt und noch einen, bis es mit einem Fuß im Wasser stand. Und tatsächlich: auf einmal spürte es die herrliche Frische des Meeres und seine Kraft. Als es aber wieder aus dem Wasser herausging und auf seinen Fuß schaute, war der Fuß weg.

„Was hast du mit meinem Fuß gemacht?“, fragte das Salzmännchen ganz aufgeregt?“ Aber das Meer blieb ganz ruhig: „Wenn du mich kennen lernen willst, musst du ein Stück von dir hergeben.“  – „Wenn du  mich kennen lernen willst, musst du ein Stück von dir hergeben,“ wiederholte das Salzmännchen, um es sich gut zu merken. Und wieder setzte es einen Fuß in das Meer, und dann den anderen, und immer weiter und weiter ging es hinein und hatte dabei das beglückende Gefühl, das Meer immer besser kennen zu lernen.

(aus dem Chinesischen)

Wenn du mich kennenlernen willst, musst du etwas von dir hergeben … das gilt für das Entstehen und Wachsen von Beziehungen, das gilt auch für die Einheit einer Gemeinschaft.

 

Prälat Dr. Stefan Dybowski

 

13.09.2021   Monatsvortrag Kloster St. Augustinus, Berlin-Lankwitz