Es passiert mir nicht selten, dass ein ganz gewöhnlicher, unwillkürlich hingeworfener Satz von jemandem für mich zum Anlass tieferes Nachdenken wird. Das war in dem Fall, den ich gleich beschreiben werde, nicht anders. Es war ein gewöhnliches, einfaches Gespräch mit einer älteren Schwester aus meiner Gemeinschaft, deren Gedächtnis manchmal Lücken aufweist. Als sie das Bild unseres Stifters betrachtete, fragte sie mich: „Schwester, hatte unser Stifter eine Brille? Denn ich kann nicht gut sehen.” Ich antwortete, dass er keine Brille trug. Nach einem Moment des Nachdenkens sagte die Schwester: „Oh… nun, dann hatte er gute Augen. Deshalb ist er auch unser Stifterer. Weil er gute Augen hatte.” Dieses Thema hat mich mehrere Wochen beschäftigt und dann habe ich für mich drei Schlussfolgerungen gezogen.

Erstens: Unser Stifter hatte ein gutes Sehvermögen (hier ist nicht das physisches Sehvermögen gemeint), das heißt, er sah viel. Sicherlich hat er mehr gesehen als ich oft sehe. Er sah die unermesslichen Bedürfnisse und die (nicht nur unbedingt materielle) Armut seiner Zeitgenossen. Ich stelle mir eine Frage: bemühe ich mich, mehr zu sehen als meine kleine, sichere Welt (mein sprichwörtliches „Nasenende“)? Sehe ich die sich verändernden Bedürfnisse, Probleme und „Nöte“ meiner Zeitgenossen? Bin ich nicht verwundert über die leeren Augen der Menschen in der Straßenbahn und ihre mit Kopfhörern verstopften Ohren? Bin ich nicht beunruhigt über die Schläfrigkeit der Vernunft bei vielen jungen Menschen? Beunruhigen mich nicht die sehr deutlichen Spaltungen in der Gesellschaft, in den Familien, in den Gemeinschaften? Sehe ich in solch alltäglichen Bildern etwas mehr? Suche ich nach den Ursachen? Der Stifter sah mehr, weiter, tiefer. Deshalb antwortete er adäquat auf die Bedürfnisse der Situation…und innovativ für das 19. Jahrhundert. Und ich? Ich muss leider sagen, dass es mir meist leichter fällt, meinen altbewährten Mustern zu folgen und Jesus nicht zu fragen: „Was würdest Du jetzt tun?“

Zweitens: Pfarrer Schneider hatte buchstäblich „gute Augen“. Habe auch ich ein gutes Auge, „Gottes Auge“? Versuche ich, einen anderen Menschen mit den Augen Gottes zu sehen? Sehe ich in ihm die Schönheit und Güte eines Kindes Gottes? Schließlich war alles, was Gott geschaffen hat, gut. Helfe ich den Menschen, das Licht zu entdecken, mit dem sie auf die Welt gekommen sind? Immerhin kämpft dieses Licht in jedem von uns so hart darum, nicht für den Rest ausgelöscht zu werden… Schütze ich diesen glimmenden Docht? Nicht nur in einem anderen Menschen, sondern auch in mir selbst?

Drittens: Er hatte „erleuchtete Augen des Herzens“ und wusste, „zu welcher Hoffnung Gott ihr durch ihn berufen seid, welchen Reichtum die Herrlichkeit seines Erbes den Heiligen schenkt und wie  überragend groß seine Macht sich an uns, den Gläubigen, erweist durch das Wirken seiner Kraft und Stärke.“ (Eph 1,18-19). Er gab anderen das, was er hatte, nämlich einen starken Glauben, Hoffnung und Liebe – eine innere Gewissheit von Gottes Barmherzigkeit… kostenlos, für jeden, ohne Ausnahme. Das erinnert mich an eine einfache Regel: Man gibt, was man in sich hat. Was gebe ich anderen? Wenn ich kein Licht in mir habe, wie soll ich dann anderen den Weg zu Gott leuchten?

Jedes Kind bekommt einen Teil der Eigenschaften seiner Eltern und lernt durch ihr Vorbild. Bin ich eine wahre geistige Tochter von Pfarrer Schneider? Habe ich sein Erbe übernommen? Davon bin ich noch weit entfernt.  Meine Sehkraft scheint auch schlecht zu sein, also muss ich vom GÖTTLICHEN AUGENARZT behandelt werden…

 

Sr. Franciszka Jarnot