Wir beten mehrmals am Tag das Vaterunser. Wahrscheinlich haben wir schon oft über den Inhalt des Textes nachgedacht, indem wir ihn gehört, gelesen oder darüber meditiert haben, was der Herr Jesus uns darin hinterlassen hat und wozu er seine Jünger auffordert. Seit einiger Zeit gilt meine besondere Aufmerksamkeit der fünften Bitte, die einen verpflichtenden Charakter hat und das Wesen des Christentums berührt: Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern.

Das Thema der Vergebung ist eng mit der Barmherzigkeit verbunden. Vergebung ist eine Möglichkeit, Barmherzigkeit zu zeigen. Einer der schwierigeren Wege, würde ich sagen… Ich vertraue darauf, dass jeder seine heilende Kraft in seinem Leben erfahren hat. Die Vergebung, die wir von unseren Nächsten erhalten, lehrt uns von Kindheit an, anderen Menschen und auch uns selbst gegenüber Barmherzigkeit zu zeigen. Menschen, die sich selbst gegenüber nicht barmherzig sind, nicht gut mit sich umgehen, haben in der Regel auch Schwierigkeiten, anderen Menschen gegenüber Barmherzigkeit zu zeigen, was den Aufbau sozialer, gemeinschaftlicher Beziehungen erschwert. Vergebung dient unserer menschlichen und christlichen Entwicklung. Sie verwandelt uns in Christus, der seine Jünger aufforderte, ihre Feinde zu lieben (siehe Mt 5,43-48). Jesus selbst gab ein Beispiel dafür, als er am Kreuz für uns starb, als wir noch Sünder waren (Röm 5,8), und im Todeskampf betete: Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun (Lk 23,34a). Die vergebende Liebe Gottes erfahren wir am häufigsten im Sakrament der Buße und Versöhnung. Eine gute Beichte ermöglicht es uns, unsere Beziehungen zu denjenigen wiederherzustellen, die an uns schuldig geworden sind oder die wegen uns gelitten haben… Die Vergebung erfordert, dass wir uns über persönlichen Groll und das ganz natürliche und elementare Verlangen nach Rache erheben, welches in der Tat nicht hilft, sondern den Mechanismus des Bösen anheizt. Im Gleichnis vom unbarmherzigen Schuldner fordert uns Jesus auf, nicht nur oberflächlich, sondern von Herzen zu vergeben (vgl. Mt 18,35). In der Bibel ist das Herz der Sitz der Gefühle und des Willens, das Zentrum des Menschen. Vergebung setzt Glauben und Vertrauen in Gott voraus, bedeutet aber nicht, den Sinn für Gerechtigkeit und die Erwartung von Wiedergutmachung aufzugeben. Während des Prozesses vor Hannas wird Jesus vom Diener des Hohenpriesters angegriffen und fragt ihn: Wenn ich etwas Falsches gesagt habe, dann beweise es. Und wenn ich im Recht bin, warum schlägst du mich? (Joh 18, 23). Mit diesen Worten berührt Jesus das Gewissen und regt den Menschen, der die Gunst der anderen  sucht, zum Nachdenken an. Auf diese Weise lehrt er uns, uns um die Seelen derer zu kümmern, die uns Unrecht getan haben. Diese Fürsorge setzt das Gebet, soweit möglich das Gespräch und, wenn nötig, die Hilfe für den Täter voraus.

Ich persönlich habe schon oft erlebt, dass Vergebung die Gemeinschaft stärkt. Dies ist eines ihrer Grundprinzipien. Wenn sie auf natürliche Weise gezeigt wird, hilft sie bei der Überwindung von Schwierigkeiten, an denen es jeden Tag nicht mangelt. Vergebung ist immer möglich. Sie führt zu innerer Freiheit, auch in schwierigen Situationen, und hilft, eine engere Verbindung mit Jesus zu erreichen. Die von der Gemeinschaft empfangene Vergebung bringt uns einander näher und öffnet uns für eine Vielfalt des Denkens, Reagierens und Wahrnehmens der Realität. Schließlich ist die Vergebung mit der Sanftmut verbunden, die Papst Franziskus in seinem Apostolischen Schreiben: „Gaudete et exultate”  über die Berufung zur Heiligkeit in der Welt von heute als den Stil Jesu beschreibt (siehe Nr. 71).

 

Sr. M. Michaela Musiał