Predigt anlässlich der Dankeswallfahrt nach Bardo
In einem Bergsteigerbericht wird die Situation eines Mannes beschrieben, der während eines Sturms hoch in den Bergen auf einem schmalen Felsvorsprung festsaß. Der Wind war so stark, dass er weder aufsteigen noch absteigen konnte. Die Regentropfen prallten wie Nadeln von den Felsen ab, seine Hände wurden vor Kälte taub, und jede Bewegung drohte mit einem Sturz. In einem bestimmten Moment spürte er in der Dunkelheit und im Regen mit seiner Hand eine kleine Vertiefung im Felsen – fast unsichtbar, unscheinbar. Er schob seine Finger hinein und stützte sein ganzes Körpergewicht darauf. Diese kleine, unsichtbare Stütze ermöglichte es ihm, die ganze Nacht zu überstehen. Der Berg hatte sich nicht verändert, der Sturm hatte nicht aufgehört, aber es gab nun einen Punkt, dank dem er nicht in den Abgrund stürzte. Dieses Bild beschreibt gut die Situation vieler Menschen und vieler Gemeinschaften in schwierigen Momenten der Geschichte. Es gibt Momente, in denen der Sturm der Ereignisse, Entscheidungen, Verfolgungen und Ängste mit voller Wucht zuschlägt. Und doch gibt es eine „Vertiefung im Felsen”, die die Welt oft nicht sieht – die stille Gegenwart Gottes, seine Gnade und die Fürsprache Mariens. Für euch, Schwestern der Unbefleckten Maria, war Maria – die Hüterin des Glaubens – in Zeiten der Gefahr und des Kampfes um das Überleben der Kongregation diese Stütze. Sie hat euch die schwierigen Erfahrungen nicht genommen, aber sie hat dafür gesorgt, dass der Glaube nicht in den Abgrund gestürzt ist. Im heutigen Evangelium betritt Jesus den Tempel und vollzieht eine radikale Geste: Er vertreibt die Händler, zerstört ihre Geschäfte, reinigt den Ort des Gebets. Dies ist eine der heftigsten Handlungen Jesu – und eine der liebevollsten. Das griechische Wort, das Lukas verwendet, um zu sagen, dass Jesus „vertrieb” (ἐξέβαλεν), ist dasselbe Wort, das die Austreibung von Dämonen beschreibt. Jesus ist nicht wütend auf die Menschen – er kämpft gegen das, was das Herz des Gebets zerstört. Er kämpft nicht gegen den Menschen, sondern für den Menschen. Und weiter betont Lukas, dass „er täglich im Tempel lehrte”. Das ist eine schöne Gegenüberstellung: auf der einen Seite die Kraft und der Mut der Reinigung, auf der anderen Seite die sanfte, geduldige Präsenz. Jesus beseitigt, was stört, aber er bleibt, um Leben zu schenken. Die Reinigung ist nicht das Ende, sondern der Anfang. Darüber hinaus notiert Lukas, dass „das Volk ihm mit angehaltenem Atem zuhörte” (ἐξεκρέματο αὐτοῦ ἀκούων – wörtlich „hing an seinen Lippen”). Das ist ein bemerkenswertes Bild: Die Menschen klammern sich an die Worte Jesu wie Bergsteiger an einen Felsvorsprung. Das Wort Gottes ist eine Stütze in stürmischen Zeiten. Schwestern der Unbefleckten Maria, Ihre Kongregation hat in ihrer Geschichte eine eigene „Tempelreinigung” erlebt: Zeiten der Prüfungen, Gefahren und sogar Momente der fast vollständigen Vernichtung. Aber gerade dann offenbarte sich umso stärker die Wahrheit, an die Ihre Konstitutionen erinnern: „Unser Apostolat wird nur dann fruchtbar sein, wenn wir tief mit Christus vereint sind. Er ist die Quelle unseres geistlichen Lebens und die Kraft der Hingabe an unsere Nächsten” (Konstitutionen, 92). Dieser Satz ist wie ein Schlüssel, der das heutige Evangelium erschließt. Als Jesus den Tempel reinigte, zerstörte er ihn nicht – er gab ihm sein Herz zurück. Ebenso hat Jesus in der Geschichte eurer Kongregation in Zeiten der Prüfung durch Maria dieses Herz nicht erlöschen lassen: das Gebet, die Anbetung, das tägliche Verweilen bei ihm. Eure Treue war nicht nur Überleben, sondern – wie es im Schlussdokument des XXI. Kapitels heißt – Verwurzelung im Primat der Gnade: „Die Erneuerung unserer Berufung in der heutigen Welt ist nur möglich durch die Anerkennung des Primats der Gnade und die Wiederentdeckung der spirituellen Tiefe”. Das ist eine äußerst starke Botschaft für die heutige Zeit. In einer Welt, die sagt: „Was zählt, sind Effizienz, Projekte, Zahlen, Pläne”, erinnert das Kapitel daran: Alles beginnt mit der Gnade. Nicht mit Strategien, sondern mit dem Verbleiben bei Jesus – so wie die Menschen im Tempel, die „an seinen Lippen hingen”. Und noch ein Satz aus dem Kapitel, der besonders gut zu Ihrer Pilgerreise zu Maria, der Hüterin des Glaubens, passt: Ihre Identität als Schwestern Mariens der Unbefleckten ist nicht nur ein Name, sondern eine Mission: „Wir fühlen uns berufen, unsere marianische Spiritualität zu beleben (…), indem wir auf das Wort Gottes hören und darüber nachdenken und Maria als Vorbild zeigen”. Maria von Bardo – die Hüterin des Glaubens – lehrt genau dieses Hören und Ausharren. Sie hat weder den Sturm gestoppt noch das Kreuz zurückgenommen, aber sie hat dafür gesorgt, dass der Glaube nicht erloschen ist. Und ebenso hat sie nicht zugelassen, dass Ihre Kongregation erlischt. Deshalb ist Ihre Dankbarkeit heute nicht nur eine Erinnerung an die Vergangenheit. Sie ist eine Erneuerung der Entscheidung: ein von Christus gereinigter Tempel zu sein, der die Vorrangstellung der Gnade pflegt, in dem Maria den Glauben bewahrt – nicht als Ausstellungsstück, sondern als lebendiges Feuer. Gleich werden wir an der Eucharistie teilnehmen – an dem Geheimnis, in dem Jesus wieder in den Tempel eintritt. In den Tempel unserer Herzen und in den Tempel eurer Kongregation. Jede Heilige Messe ist ein Moment der Reinigung: Er beseitigt, was stört, und bleibt bei uns – jeden Tag, so wie er jeden Tag im Tempel lehrte. Wenn der Priester die Hostie erhebt, lehrt uns Maria – die Hüterin des Glaubens – ihren Blick unter dem Kreuz: einen Blick, der sich niemals vom Geheimnis Gottes abwendet, der inmitten von Schwierigkeiten wirkt. Sie lehrt uns, dass Treue kein Gefühl ist, sondern Beständigkeit. Dass Rettung aus Vertrauen entsteht. Dass das Wort wirklich ein Fels ist. Heute danken wir für die Rettung Ihrer Kongregation. Aber gleichzeitig vertrauen wir sie erneut Maria an – damit sie immer Ihre Hüterin des Glaubens sei. Damit jede Schwester Jesus „mit angehaltenem Atem” zuhört. Damit Jesus reinigt, was gereinigt werden muss, und euch jeden Tag im Tempel eurer Herzen lehrt.
Ks. Bartosz Trojanowski
