Bei einer meiner Meditationen über einen Text aus dem Johannesevangelium fiel mir ein Satz auf, der dort steht: „So entstand seinetwegen eine Spaltung in der Menge.“ (Joh 7,43). Dieses Wort las ich im Kontext mit dem Jahr der Einheit, das derzeit in unserer Kongregation gelebt wird. Ich sah die Einheit und die Spaltung in der Heilsgeschichte, in der Geschichte der Menschheit, in jedem menschlichen Herzen. Ich sah den großen Wunsch Jesu selbst, den er in seinem Gebet kurz vor seinem Leiden zum Vater sprach: „Alle sollen eins sein: Wie du, Vater, in mir bist und ich in dir bin, sollen auch sie in uns sein, damit die Welt glaubt, dass du mich gesandt hast“ (Joh 17,21). Die Einheit der Jünger ist ein beredtes Zeugnis der Liebe Gottes zu den Menschen. Eine Liebe, die weiß, „was im Menschen ist“ (Joh 2,25b), und die entschlossen ist, „die versprengten Kinder Gottes wieder zu sammeln“ (Joh 11,52). In gleicher Weise ist unsere Einheit in den Gemeinschaften und in den Werken, die wir betreiben, ein Zeugnis für Gottes Gegenwart hier und jetzt.

Eingebettet in diesen großen Wunsch nach Einheit ist die Wahrheit über die Sünde, die die Menschheit seit Anbeginn der Zeit entzweit (Gen 3,1). Sie trennt den Menschen von Gott. Sie bringt Zwietracht sogar zwischen denen hervor, die sich am nächsten stehen. Sie zerstört die Harmonie mit der Natur und verletzt das Herz des Menschen, indem sie tiefe Risse in ihm hinterlässt, zuerst in der Erbsünde und dann in den persönlichen Sünden… Oft sind die äußeren Trennungen nur ein Abbild dessen, was in den Herzen, Seelen und Köpfen der Menschen geschieht. Der heilige Paulus wies darauf hin, als er darüber schrieb, wie die Sünde das Denken beeinflusst: „Denn sie haben Gott erkannt, ihn aber nicht als Gott geehrt und ihm nicht gedankt. Sie verfielen in ihrem Denken der Nichtigkeit und ihr unverständiges Herz wurde verfinster.“ (Römer 1,21-22). Gleichzeitig beklagt derselbe Apostel seine eigene innere Zerrissenheit, trotz all seiner Hingabe im Dienst des Evangeliums: „Ich unglücklicher Mensch! Wer wird mich aus diesem dem Tod verfallenen Leib erretten?” ( Röm 7,24). Mit diesen Worten erkennt er seine eigene Sündhaftigkeit an, nicht nur in seinem ersten Leben als glühender Pharisäer, sondern auch nachdem er sich der Gemeinschaft der Kirche angeschlossen hatte. Wie viel Demut steckt darin, wie viel Wahrheit…

Bei meinen biblischen und lebensgeschichtlichen Überlegungen kamen mir die Worte aus dem Epheserbrief in den Sinn über die Menschen, die durch eine Mauer der Feindseligkeit getrennt sind, die Jesus aber niedergerissen und so eins gemacht hat (vgl. Eph 2,14-16). Und obwohl die Textstelle von Juden und Heiden spricht, gilt das Wort auch für die Menschen von heute, also für Sie und mich. Feindseligkeit, geschürt durch Angst – meist vor sich selbst, Missgunst, Ärger oder fehlende Vergebung, behindert ständig den Aufbau guter zwischenmenschlicher Beziehungen, auf denen jede Einheit beruht. Es geht auch um die Beziehung zu sich selbst und zu Gott.

Der Eine, der die Wunden unserer gebrochenen Herzen heilt und eine schwache Flamme nicht auslöscht (vgl. Jes 42,3), der lehrt, Brücken zu bauen, statt Mauern zu errichten, ist der gekreuzigte und von den Toten auferstandene Jesus. Sein Herz ist auch verwundet, durch unsere Sünde – meine und Ihre. Er hat erlaubt, sie zu verwunden, zu durchbohren, zu öffnen. Und genau wie an den heiligen Thomas richtet er auch an uns eine Einladung: „Streck deinen  Finger aus – hier sind meine Hände! Streck deine Hand aus und leg sie in meine Seite, und sei nicht ungläubig, sondern gläubig!“ (Joh 20,27). Und der Glaube wirkt Wunder. Wunder geschehen auch heute noch. Die Einheit in der Vielfalt ist auch ein solches Wunder. Indem wir das Herz Jesu berühren, bei ihm bleiben, in ihn eintauchen, erfahren wir die Heilung unserer Zerrissenheit im Herzen und… wir erfüllen das Testament unseres Stifters: „Bleibt einig!”

Die Mutter ist dem Herzen des Sohnes am nächsten. Unter ihrem unbefleckten Herzen wurde das menschliche Herz Gottes geformt, das zwei so unterschiedliche Naturen vereinte. Sie, die auch unsere Mutter ist, die Mutter der Kirche, möge für uns die Gnade der inneren Einheit erlangen, das heißt die Einheit mit Gott durch ein Leben in der Gnade, in Freiheit von der Sünde, besonders von der bewussten, geplanten und absichtlichen Sünde. Möge sie auch für uns die Gabe der Einheit mit den Menschen erlangen, die schwesterliche Einheit durchdie „die Liebe Gottes ausgegossen ist in unsere Herzen durch den Heiligen Geist, der uns gegeben ist“ (Röm 5,5).

 

Sr. M. Michaela Musiał